young-adult-laughing

Wissen vs. Fühlen – Heilung passiert im Körper, nicht nur im Kopf

Juli 9, 2025 | Allgemein

Du weißt, was passiert ist. Du hattest die Erkenntnis. Du hast schon hundertmal gesagt: „Es war nicht meine Schuld.“ Und du hast es sogar ernst gemeint. Und trotzdem: Dein Körper hat’s nicht so ganz mitbekommen. Du erstarrst, wenn jemand laut wird. Dein Bauch zieht sich zusammen, wenn deine Nachricht auf “gelesen” bleibt. Du schämst dich für Dinge, von denen dein Verstand weiß, dass du nichts dafür kannst.

Diese Lücke schauen wir uns heute genauer an. Den Abstand zwischen Wissen und Fühlen. Zwischen kognitiver Einsicht und verkörperter Heilung. Und sie ist einer der frustrierendsten Teile auf dem Weg emotionaler Entwicklung – bis du lernst, deinen Körper mitzunehmen, anstatt ihn zu übergehen.

Denn Heilung passiert nicht im Kopf. Sie passiert im Körper. Und der spricht nicht in Logik – sondern in Empfindung.

Wenn Verstehen nicht reicht

Du hast deine Muster durchschaut. Du kannst das Trauma benennen, dich an den Moment erinnern, deinen Bindungsstil aus dem Effeff erklären. Und trotzdem reicht ein bestimmter Ton, ein Blick, ein kurzes Zögern, und du bist wieder mittendrin.

Wir leben in einer ziemlich verkopften Gesellschaft. Die meisten Jobs drehen sich um kognitive Fähigkeiten – analysieren, planen, lösen. Wir sind gut darin, uns durchs Leben zu denken. Und das funktioniert – bis es um unsere Gefühle geht.

Dein Kopf sagt: „Ja, ich weiß, ich bin wieder getriggert worden. Das liegt an der Mobbing-Zeit in der Schule. Beim nächsten Mal hab ich’s im Griff.“ Und beim nächsten Streit? Wieder getriggert – weil reines Verstehen die Körperreaktion nicht verändern wird.

Emotionale Muster sitzen im Nervensystem – und das updated sich nicht automatisch, nur weil du über die Ursache Bescheid weißt.

Das ist der Unterschied zwischen Wissen und Fühlen.

Wissen ist, die Karte zu lesen.

Heilung ist, den Weg zu gehen.

Und der führt direkt durchs Nervensystem.

Dein Kopf hat’s verstanden – dein Körper ist noch unterwegs

Heilung ist körperlich. Ganz buchstäblich. Es ist dein Körper, der lernt – langsam, geduldig – dass du heute nicht mehr in Gefahr bist. Dein Nervensystem speichert Erinnerungen. Nicht im Sinne von: „Ich erinnere mich an die Szene als ich 9 war“, sondern eher so: „Mein Körper verkrampft, obwohl ich weiß, dass ich sicher bin.“

Das nennt man somatische Erinnerung.

Deshalb schlägt dein Herz schneller, wenn du in einem Meeting was sagen willst. Deshalb zieht sich deine Brust zusammen, wenn jemand geht. Deshalb fließen die Tränen, wenn jemand bleibt.

Du bist nicht „überempfindlich“ oder “zu emotional”. (Was soll das überhaupt bedeuten – “zu” emotional?) Du bist ehrlich. Dein Kopf kennt die Theorie – aber dein Körper ist wie ein treuer, etwas langsamer Hund. Er braucht Zeit, Wiederholung, und ganz viel Sicherheit, bis er dir glaubt.

Wie sich echte Heilung anfühlt

Heilung ist selten ein großer Durchbruch. Meistens fühlt sie sich eher leise an. Langsam. Manchmal sogar langweilig. Sie zeigt sich durch einen Atemzug statt wegzulaufen. Im Dableiben während eines Streits. Darin, jemanden ein kleines Stück näher an sich ranzulassen. Oft ist der größte Fortschritt kein lauter Aha-Moment – sondern eine winzige Reaktion, die anders ist, als die vom letzten Mal. Es ist die Pause zwischen Auslöser und Reaktion. Und die ist es, die zählt.

Nächstes Mal, wenn du wieder getriggert bist:

Pausiere.

Spür kurz in dich rein.

Wo merkst du Spannung?

Du musst nichts verändern.

Nur wahrnehmen.

Und genau damit bist du schon mittendrin im Prozess.

Wenn dein Kopf dann ruft „Warum fühl ich mich denn jetzt so?!“ – bist du schon wieder eine Etage zu weit oben. Vertrau deinem Körper. Allein durchs Zuhören machst du’s schon genau richtig. Kein Gedankenkreisen nötig.

Fühlen ist kein Fehler – es ist der richtige Weg

Wenn dein Körper das Alte noch festhält, heißt das nicht, dass du irgendetwas falsch machst. Es bedeutet nur: Heilung hat nichts mit „schlau sein“ zu tun – sondern mit dem Sicherheitsgefühl im Körper. Du musst nicht alles im Kopf lösen. Du musst einfach lang genug bei dir bleiben. Reinspüren. Zulassen.

Und deinem Körper Zeit geben, zu lernen: Du kannst das schaffen. Du wirst daran nicht zerbrechen. Und wenn er wieder und wieder merkt, dass er daran nicht zerbrochen ist, glaubt er dir eines Tages, dass die Geschichte vorbei ist.

Referenzen

Barrett, L. F. (2017). How emotions are made: The secret life of the brain. Houghton Mifflin Harcourt.

Clark, A. (2013). Whatever next? Predictive brains, situated agents, and the future of cognitive science. Behavioral and Brain Sciences, 36(3), 181–204.

Hart, T., & Rosch, E. (2000). The power of feeling: Emotional intelligence and the education of the heart. Zygon®, 35(3), 625–636.

Ogden, P., Minton, K., & Pain, C. (2006/2021 Reprint). Trauma and the Body: A Sensorimotor Approach to Psychotherapy. W. W. Norton & Company.

Van der Kolk, B. (2014). The Body Keeps the Score: Brain, Mind, and Body in the Healing of Trauma. Penguin.