A woman holding up an illustration of a crying face in front of her own face

Wenn dein Gehirn dich wegen Dingen weinen lässt, die nie passiert sind 

Juli 1, 2025 | Allgemein

Schon mal wütend geworden, nervös oder in Tränen ausgebrochen wegen etwas, das nur in deinem Kopf passiert ist? Ja? Kenn ich zu gut. Aber was war zuerst da – der Gedanke oder das Gefühl? Hier kommt der Plot Twist: Beides kann sein. Aber noch davor passiert was ganz anderes: ein Körpergefühl. Dieses subtile Etwas – ein flaues Gefühl im Bauch, Druck in der Brust, Hitze im Gesicht. Dein Körper meldet sich oft bevor du überhaupt weißt, warum.

Warum? Weil unser Gehirn einen Hauptjob hat: Gefahr vorhersagen. Es scannt nonstop nach Mustern und speichert alles ab, was uns früher mal wehgetan hat – damit wir nächstes Mal schneller reagieren können.

Warum dein Gehirn schneller denkt, als du fühlen kannst

Noch bevor du einen klaren Gedanken fassen oder ein Gefühl benennen kannst, hat dein Gehirn längst entschieden: “Achtung, das kommt mir bekannt vor!” Das nennt man prädiktive Verarbeitung – dein Gehirn wartet nicht ab, was passiert, es baut sich seine Realität vorab zusammen, auf Basis deiner Vergangenheit.

Du gehst in einen Raum, und dein Bauch zieht sich zusammen? Das ist dein Gehirn, das dir signalisiert: “Letztes Mal hat uns das nicht gut getan. Pass lieber auf.”

Das besondere daran: Dein Gehirn bekommt mehr Infos aus deinem Inneren (Stichwort: Interozeption) als von der Außenwelt. Dieser enge Brustkorb, das verspannte Kiefer, das innere Kribbeln – das ist dein Körper, der auf etwas reagiert, das vielleicht nur in deiner Erinnerung existiert.

“Das Gehirn reagiert nicht einfach auf die Welt. Es sagt voraus, was passieren wird.”
– Dr. Lisa Feldman Barrett, How Emotions Are Made (2017)

Warum das wichtig ist

Wenn du plötzlich aus dem Nichts überreagierst, bist du nicht „zu sensibel“ oder „kaputt“. Dein Gehirn macht genau das, wofür es gebaut wurde. Es schützt dich. Manchmal nur mit veralteten Infos. Dieses System hat unsere Vorfahren am Leben gehalten. Es hat sie davor bewahrt, von Bären gefressen zu werden oder giftige Beeren zu essen. Und es funktioniert auch heute noch einwandfrei. Auch heute solltest du noch vor Bären davonrennen. (Oder dich tot stellen – kommt auf den Bären an.)

Doch wir leben heute in modernen Zeiten: Heute ist dieser Bär diese eine passiv-aggressive E-Mail. Dieser Tonfall in der Stimme des Gegenübers. Ein Flashback. Diese Story, die du dir nachts um zwei wieder und wieder erzählst.

Und unser Gehirn? Das kann den Unterschied zwischen der Realität und unserer Einbildung eh nicht unterscheiden. Der Körper reagiert so oder so.

Aber hier kommt das Gute: So wie dein Kopf dich in die Überforderung schubsen kann , kann er dich auch wieder rausführen.

Reframing: Deine Gedanken umrahmen – neu, schöner, freundlicher

Ich möchte dir eines meiner Lieblingswerkzeuge aus der kognitiven Verhaltenstherapie vorstellen: Das Reframing.

Reframing ist ein altbekanntes und bewährtes Tool – bereits Koriphäen wie Aaron T. Beck, Milton Erickson, Gregory Bateson oder Virginia Satir nutzten es in ihrer Arbeit. Und ja, es ist genau das, was der Name sagt: Du nimmst einen Gedanken, der sich schwer oder eng anfühlt und packst ihn in einen neuen Rahmen. Nicht, um dich selbst zu belügen. Sondern um dir selbst die Chance zu geben, ihn in einem anderen Licht zu sehen. Wie bei einem Bild, das in einem neuen Rahmen plötzlich einen ganz anderen Eindruck in dir erweckt.

Wie das konkret aussieht?

Aus “Ich versage” wird “Ich lerne gerade.” Aus “Das ist mir zu viel.” wird “Das geht mir gerade zu schnell, ich mache etwas langsamer.” Oder du hängst vier magische Buchstaben an deinen Satz und spürst, wie sie die komplette Aussage verändern: noch. Aus “Ich kann das einfach nicht.” wird “Ich kann das noch nicht.”

Boah, allein das zu tippen bringt mir gerade Erleichterung. Dieses Wort? Noch? Macht richtig was mit mir. Es öffnet. Gibt Raum. Gibt Luft. Der Gedanke ist plötzlich nicht mehr das Ende – sondern nur noch ein weiterer Zwischenschritt.

Deine Gedanken gestalten deine Welt – also such dir gute Rahmen aus

Es geht nicht darum, alles schönzureden. Es geht darum zu merken: Du hast mehr als nur einen Rahmen zur Auswahl. Wenn dein Kopf also wieder aufdreht: Pause. Zurücktreten. Das ganze Bild anschauen.

Ist das wirklich der einzige Rahmen, durch den du das ganze sehen kannst? Oder gibt’s da noch einen, der freundlicher ist? Der vielleicht ein bisschen weicher ist? Einen mit einem kleinen “noch”-Sticker dran?

Denn auch wenn dein Nervensystem Alarm schlägt – du bist die Person, die deine Galerie gestaltet. Du entscheidest, was bleibt. Was sich verändern darf. Und was du neu rahmst.

Referenzen

Barrett, L. F. (2017). How Emotions Are Made: The Secret Life of the Brain. Houghton Mifflin Harcourt.

Beck, J. S. (2011). Cognitive Behavior Therapy: Basics and Beyond (2nd ed.). Guilford Press.

Nave, K. (2020). Wilding the predictive brain. Wiley Interdisciplinary Reviews: Cognitive Science, 11(6).

Quadt, L., Garfinkel, S. N., & Critchley, H. D. (2018). Interoception and emotion: Shared mechanisms and clinical implications. Annual Review of Clinical Psychology, 14, 113–137.