Wenn „Klar, kein Problem“ zum Problem wird: Warum Grenzen so schwer zu halten sind
Früher dachte ich, ich wäre einfach hilfreich. Die Verlässliche. Die Freundin, die andere nicht im Stich lässt. Die Kollegin, die ein bisschen länger bleibt, um „das noch schnell fertig zu machen“. Weil die anderen das ja auch für mich tun würden, nicht wahr?
Wann immer das nicht der Fall war, ertappte ich mich dabei, wie ich aufgebracht war – wegen Freunden, die Pläne absagten, und Kollegen, die pünktlich Feierabend machten. Als die emotional fitte Person, die ich nun mal bin (zwinker), wusste ich: Meine Frustration war nur eine Projektion. Die anderen bewahrten ihre Grenzen, während ich mir nicht einmal erlaubte, überhaupt welche zu haben. Im Grunde war ich einfach… neidisch.
Mir wurde klar, dass mein ständiges „klar, kein Problem“ mich etwas kostete.
Schlaf. Raum. Nerven.
Es ging nicht mehr um Freundlichkeit – es ging um Angst. Angst, jemanden zu enttäuschen. Angst, abgelehnt zu werden. Angst davor, was passieren könnte, wenn ich einfach Nein sage.
Und genau da verstand ich: Grenzen sind keine Mauern. Sie sind das Bewusstsein dafür, wo ich ende – und die Welt beginnt.
Die feine Wissenschaft der Grenzen
Aus neurowissenschaftlicher Sicht sind Grenzen keine reinen Sozialkonstrukte – sie sind biologische Sicherheitssysteme. Wenn jemand eine Grenze überschreitet (auch emotional), weiß dein Körper es, bevor dein Verstand es tut. Vielleicht spürst du ein Ziehen in der Brust. Oder dein Magen zieht sich zusammen. Das ist dein Nervensystem, das flüstert: „Hier stimmt etwas nicht.“
Dr. Dan Siegel nennt das das „Fenster der Toleranz“ – die Zone, in der dein Körper sich sicher genug fühlt, um offen und verbunden zu bleiben. Sobald dein System Bedrohung wahrnimmt – real oder emotional – schaltet es in den Schutzmodus: Kampf, Flucht, Erstarren oder Gefallen („Fawn“). Und für viele von uns, die gelernt haben, anderen entgegenzukommen, wird dieses Gefallen zur zweiten Natur.
Ja-sagen fühlt sich sicherer an als Nein-sagen. Also tauschen wir Authentizität gegen Zustimmung – oft ohne es zu merken.
Warum „Nein“ sagen so schwer ist
Grenzen hängen nicht nur davon ab, was wir sagen, sondern davon, was wir über uns und die Welt glauben. Wenn du tief in dir glaubst, dein Wert hänge davon ab, gemocht zu werden, behandelt dein Nervensystem ein Nein als Gefahr. Deshalb können selbst einfache Grenzen („Ich kann gerade nicht reden“) Angst auslösen. Dein Gehirn meldet Ablehnung als Bedrohung, und dein Körper reagiert entsprechend.
Als ich das verstand, merkte ich: Ich hatte Angst, als schlechte Freundin gesehen zu werden. Als faule Kollegin. Als nicht-liebenswerter Mensch. Aber was mir ebenfalls auffiel, war: Ich respektiere die Menschen, die ihre Grenzen wahrten, keineswegs weniger – im Gegenteil: Ich fand sie ganz schön stark.
Vielleicht war es also Zeit, auch mein eigenes Grenzensetzen zu verbessern. Denn Schwierigkeiten mit Grenzen sind keine Schwäche – es ist unsere Programmierung. Und das Gute daran? Programmierung kann umgeschrieben werden.
Wie du wieder mit deinen Grenzen in Kontakt kommst
Wenn du körperliche Signale spürst – Anspannung, Unruhe, Erschöpfung – halte inne. Bevor du die Situation analysierst, schau in dich hinein: Was fühlt sich hier nicht richtig an? Dein Körper weiß oft mehr als dein Kopf.
2. Fang mit Mini-Grenzen an.
Du brauchst keine dramatische Konfrontation. Fang klein an: Benachrichtigungen nach Feierabend ausschalten, sagen „Ich denke drüber nach“, oder dir kurz Zeit nehmen, bevor du jemandem zusagst. Jede kleine Handlung trainiert dein Nervensystem neu – Selbstschutz fühlt sich dann sicher an und nicht gefährlich.
3. Repariere, wenn du deine Grenzen übertrittst.
Manchmal sagst du Ja, obwohl du Nein meintest – und das ist okay. Wichtig ist, es ohne Scham zu bemerken und dich bei dir selbst zu entschuldigen. Du lernst gerade etwas Neues. Du darfst kleine Schritte und auch Fehler machen.
Die Art von Grenzen, die heilen
Grenzen bedeuten nicht, Menschen wegzustoßen. Sie sind das, was Nähe erst möglich macht, ohne dich selbst zu verlieren. Wenn du eine Grenze mit Klarheit und Fürsorge hältst, sagst du deinem Nervensystem: „Ich bin sicher und bleibe offen.“
Und das ist das Paradox: Je stärker deine Grenzen, desto tiefer können deine Verbindungen werden. Denn wahre Nähe entsteht nur, wenn beide wirklich sie selbst sein dürfen.
Key-Takeaways:
- Grenzen sind auch biologisch, nicht nur verhaltensbezogen.
- Neinsagen kann Stress auslösen – aber mit Übung kannst du das Muster verändern.
- Fang klein an, bleib konsequent und lass dich von deinem Körper führen.
- Gesunde Grenzen schaffen Raum für echte Verbindung.
Referenzen
Siegel, D. J. (2012). The Developing Mind: How Relationships and the Brain Interact to Shape Who We Are. Guilford Press.
Porges, S. W. (2011). The Polyvagal Theory: Neurophysiological Foundations of Emotions, Attachment, Communication, and Self-Regulation. W. W. Norton & Company.
Van der Kolk, B. (2014). The Body Keeps the Score: Brain, Mind, and Body in the Healing of Trauma. Penguin Books.
Levine, P. (2010). In an Unspoken Voice: How the Body Releases Trauma and Restores Goodness. North Atlantic Books.